Zusammenspiel der Realiatete als eines der Hauptprinzipien des Sujetaufbaus im Roman Stiller von Max Frisch

Schilderung des Anfangs und der Probleme dieser Ehe springt der Bericht

sofort auf das Krisenjahr 1945 (das war vor etwa sieben Jahren - (Frisch

1992: 94). Dieses wird nun von Julikas Standpunkt aus ausfuehrlich

geschildert, dazwischen aber heisst es: Hier waere etwas nachzutragen

(Frisch 1992: 139), und nun erst erfahren wir Stillers Spanienerlebnis aus

dem Jahre 1935. Dies ist - mit Ausnahme einiger Kindheitserlebnisse, die

aber nicht in unmittelbarer Beziehung zur Handlung stehen - der frueheste

im Roman dargestellte Zeitpunkt. Die Gegenwart macht sich also immer wieder

bemerkbar, auch in den Rueckwendungen.

Die beiden anderen der Vergangenheit gewidmeten Hefte - 4 und 6 -haben

zwar eine einfachere Zeitstruktur, weil sie fast ausschliesslich vom Jahr

1945 handeln. Aber auch hier ist die Erzaehlung immer wieder durch

Einschuebe in der Gegenwart unterbrochen, nicht nur durch die bereits

erwaehnten Bemerkungen und Kommentare des Tagebuchschreibers, sondern auch

durch Ereignisse und Reflexionen in der Gegenwart. So heisst es im 4. Heft

ploetzlich: "Sibylle (die Frau meines Staatsanwalts) hat gestern kurz nach

Mitternacht ein beinahe siebenpfundiges Maedchen geboren" (Frisch 1992:

218), oder im 6. Heft: "Manner sind komisch!" findet Sibylle noch heute""

(Frisch 1992: 284), und nach dem Bericht, dass Sibylle sich in Le Havre

eingeschifft habe: "Mein Freund, der Staatsanwalt, meldet, dass die

Schlussverhandlung (mit Urteilsspruch) auf Dienstag in acht Tagen angesetzt

ist " (Frisch 1992: 308). Die Gegenwart bleibt also im Bewusstsein des

Lesers immer vorhanden. Karlheinz Braun kommentiert diesen Sachverhalt

folgendermassen: "Es ist deutlich, dass in diesen Heften die Vergangenheit

dominiert, doch Frisch macht von der Moeglichkeit, die momentane Gegenwart

aufleuchten zu lassen, so reichlich Gebrauch, dass sich hier Vergangenheit

und Gegenwart eigentuemlich vermischen" (Braun 1959: 78)

Das 7. Heft nimmt sowohl in der Erzaehlhaltung als auch in der

zeitlichen Struktur eine Sonderstellung ein. Es enthaelt zunaechst, ebenso

wie die anderen Hefte mit ungerader Numerierung, Erlebnisse im Gefaengnis,

also in der Gegenwartsebene: Besuch beim Zahnarzt, Gespraech mit dem

Staatsanwalt, Gang auf den Friedhof und Besuch von Freunden, gemischt mit

Reflexionen und Erinnerungen an Mexiko, die uebrigens wieder im zeitlosen

Praesens geschrieben sind. Danach folgt die Rueckwendung auf Stillers

Vergangenheit in der Ich-Form, beginnend mit den Worten: "Es ist ja nicht

wahr [...]" (Frisch 1992: 334). Schliesslich wird ein ganzer Tag im

Gefaengnis protokolliert, eingeleitet durch die Substantive mit zeitlicher

Bedeutung: 1. Der Vormittag, 2. Das Mittagessen, 3. Der Nachmittag. Diese

Protokolle werden immer ausfuehrlicher, der Bericht vom Nachmittag nimmt 23

Seiten ein (355-378). Hier naehert sich die Erzaehlzeit der erzaehlten

Zeit, so wie sich die White-Handlung der Stiller-Handlung naehert und

schliesslich mit ihr verschmilzt. Das Protokoll war bisher die Form, in der

die Vergangenheit Stillers dem Leser vermittelt wurde. Dass sie hier auf

die Gegenwartsebene, den Aufenthalt im Gefangnis, angewandt wird, ist ein

Zeichen dafuer, dass der Tagebuchschreiber White Stillers Vergangenheit als

die seinige uebernimmt. Das Gefuehl ein neuer, anderer Mensch zu sein, das

ihn auch jetzt nicht verlaesst, wird erst jetzt, unmittelbar vor der

Urteilsverkuendung, durch den Bericht von seinem Selbstmordversuch und die

daraus resultierende Empfindung einer Neugeburt begruendet. "Ich hatte die

bestimmte Empfindung erst jetzt geboren worden zu sein, und fuehlte mich

mit einer Unbedingtheit, die auch das Laecherliche nicht zu fuerchten hat,

bereit, niemand anders zu sein als der Mensch, als der ich eben geboren

worden bin, und kein anderes Leben zu suchen als dieses, das ich nicht von

mir werfen kann" (Frisch 1992: 381).

Dies ist die einzige Rueckwendung auf den Amerika-Aufenthalt, die

zeitlich datiert wird: "Vor etwa zwei Jahren versuchte ich, mir das Leben

zu nehmen "(Frisch 1992: 378).

Im Zusammenhang mit dem Gesagten, koennen wir zum Schluss kommen, dass

die Zeit im Roman auch als Element des Spieles fungiert. Das kann durch die

Tatsache bewiesen werden, dass die Zeitlosigkeit im amerikanischen Text als

Zeichen der Irrealitaet des dortigen Lebens fungiert und fuer die Schweiz

dagegen detailierte Zeitangaben typisch sind.

3. Die Stilebene

Nicht nur in raeumlich-zeitlicher Hinsicht lassen sich die Schweiz und

Amerika gegenueberstellen. Diese zwei Welten, zwei verschiedene

Realitaeten, werden auch auf der Stilebene miteinander konfrontiert. Das

gilt in erster Linie Landschaftsbeschreibungen. Nachstehend werden drei

Landschaftsschilderungen aus der sprachlicher Sicht analysiert und

verglichen.

Die erste ist die Beschreibung der Wueste in Mexiko. Hier arbeitet der

Erzaehler mit Anaphern: "Farben des gluehenden Mittags, Farben der

Daemmerung, Farben der unsaeglicher Nacht" (Frisch 1992: 26); mit

Wortwiederholungen: "Sand und Sand und wieder Sand" (Frisch 1992:26), vor

allem aber mit zahlreichen Vergleichen. Bei diesen Vergleichen faellt auf,

dass sie haeufig das Gesagte wieder einschraenken: "wie Orgelpfeifen oder

siebenarmige Leuchter, aber haushoch, […] nicht eigentlich gruen, eher

braeunlich wie Bernstein." (edg.: 26) Manchmal wird auch der poetische

wirkende Vergleich durch den prosaischeren ersetzt: "[…] wie mattes Gold

oder auch wie Knochenmehl" (ebd.) dadurch wird der gehobene Stil immer

wieder gebrochen. Ebenso heisst es am Schluss der Beschreibung der Wueste:

"Es erfuellte uns, ich erinnere mich, ein feierlicher Uebermut; kurz darauf

platzte der hintere Pneu" (Frisch 1992: 27)

Das eben beschriebene Stilmittel wird bei der zweiten grossen

Beschreibung, der New Yorks, noch haeufiger angewandt. Hier werden die

Vergleiche immer wieder praezieser; so heisst es: "[…] rot, nicht rot wie

Blut, rot wie die Spiegellichter in einem Glas voll roten Weines." (Frisch

1992: 315); "oder […] gelb, aber nicht gelb wie Honig, duenner, gelb wie

Whisky, gruenlich- gelb wie Schwefel […] " (Frisch 1992: 316) neben den

zahlreichen Vergleichen gibt es hier auch Metaphern: Teichen voll

Weissglut; Schwaden von buntem Nebel; Sterne ueber einer Sintflut von Neon-

Limonade; Teppiche, die aber gluehen […] usw. (Frisch 1992: 314)

Die Widerspruechlichkeit dieser Riesenstadt, die der Erzaehler eine

"Orgie der Disharmonie" nennt (Frisch 1992: 315), spiegelt sich auch in

antithetischen Figuren, die zwiespaeltige Gefuehle des Erzaehlers zum

Ausdruck bringen. "Menschen oder Termiten; Sinfonie und Limonade; sinnlich

und leblos zugleich; geistig und albern und gewaltig" (Frisch 1992. 316).

Lyrischer im Ton ist die dritte groessere Landschaftsbeschreibung

dieses Textes, die eine Landschaft in der Nahe von Zurich beinhaltet, wo

Stiller mit dem Staatsanwalt zu Mittag isst und wo er vor vielen Jahren mit

Julika war.

Da heisst es z. B.: "[...] die Zeit streicht wie eine unsichtbare

Gebaerde ueber die Range" (Frisch 1992: 351) oder "[...] eine blaeuliche

Geraeumigkeit fuellt die leeren Wipfel der Baeume, und wieder lodert das

Welken an den Hausmauern empor, klettert das letzte Laub in gluehender

Brunst der Vergaengnis" (Frisch 1992: 352). Hier dominiert nicht die

Beschreibung, sondern die durch die Landschaft ausgeloeste Erinnerung.

"Es muss an mir liegen… Nocheinmal ist alles da, die Wespen in der

Flasche, die Schatten im Kies, die goldene Stille der Vergaengnis, alles

wie verzaubert […]" (Frisch 1992: 349).

In der letzten Beschreibung dominiert nicht Stiller, sondern seine

Erinnerungen an Julika. In den ersten zwei Beschreibungen ist seine

erwuenschte Realitaet vorhanden, er geniesst dabei jede Einzelheit, weil

diese Schilderungen sein Inneres widerspiegeln und mit ihm identisch sind.

Es kann festgestellt werden, dass nicht nur in Opposition 'die Schweiz-

Amerika' sprachliche Mittel zur Entstehung und zum Zusammenspiel der

Realitaeten beitragen. Es gibt konkrete Griffe, die der Autor einsetzt, um

die Mehrschichtigkeit der Textwirklichkeit emporzuheben. Joachim Kaiser z.

B. hat auf die Bedeutung der Klammer aufmerksam gemacht, die typisch fur

Frischs Stil sei. (vgl. Kaiser 1971: 50) Auch im "Stiller" finden sich

zahlreiche Klammern (linguistisch gesehen sind das Parenthesen), so heisst

es zum Beispiel ueber Spanienerlebnisse, wo sich White Gedanken ueber

Stiller macht: "Seine Feuerprobe bestand er (vielmehr: er bestand sie eben

nicht!) vor Toledo, wo die Faschisten sich im Alcazar veschanzt hatten"

(Frisch 1992: 139) Oder: "Natuerlich ritt ich schon im Morgengrauen (in

einem grossen Bogen, damit man mir nicht auf die Spur kam) wieder zu meiner

Grotte" (Frisch 1992: 158)

"Jim traute meinen Schaetzungen nicht, dabei hat die spaetere

Erforschung jener Kavernen (die Touristen erreichen sie heutzutage von

Karlbad her, New Mexico, mit dem Bus) ganz andere Masse ergeben." (Frisch

1992: 163)

Die Klammer ergaenzt und praezisiert, hat einen Realitaetsbezug, aber

sie ironisiert und distanziert auch, weisst auf "fremde Realitaeten" hin,

nicht nur in den Protokollen des 2., 4. und 6. Heftes, wenn das

eingeschobene (so sagt er selbst), (so sagt Sibylle) usw. das Erzaehlte

immer wieder vom Erzaehler abrueckt, sondern auch im eigentlichen Tagebuch:

"So (ungefaehr) werde ich zu Frau Julika Stiller-Tschudy sprechen [... ]"

(Frisch 1992: 343).

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