Zusammenspiel der Realiatete als eines der Hauptprinzipien des Sujetaufbaus im Roman Stiller von Max Frisch

Gegenwart selbst ausspricht.

Im Rahmen der vorliegenden Analyse ist gerade Whites Position

gegenueber der Schweiz von Bedeutung, insbesondere in ihrer Opposition zu

Amerika, weil sie zu einem Instrument des Zusammenspieles zwischen Fakt und

Fiktion wird.

Die Gesellschaftskritik Mr. Whites ist durch die Form bestimmt. Der

Ich- Erzaehler tritt als Amerikaner auf, er schildert die Welt, die er

sieht, quasi von aussen, als Fremder, wenn er schreibt: " Zuerich koennte

ein reizendes Staedchen sein" (Frisch 1992: 77) (und darin liegt schon eine

gewisse Kritik), wenn er Zuericher Grossmuenster "eine Art kleine

Kathedrale" nennt, so glaubt man zunaechst, White sei wirklich ein Fremder.

Allmaehlich aber gewinnt seine Kritik an der Schweiz eine Schaerfe, wie sie

ein Fremder wohl nicht aufbraechte. Der Verteitiger nimmt es auch als

Beweis dafuer, dass sein Mandant Schweizer und somit der gesuchte Stiller

ist.

" Sie wollen mir nur vormachen, dass Sie kein Schweizer sind und somit

nicht Stiller", sagt er, " aber Sie werden mir nichts vormachen; ihr Hass

gegen die Schweiz beweisst mir noch lange nicht, dass Sie kein Schweizer

sind. Im Gegenteil!" ruft er, da ich lache, " gerade damit verraten Sie

sich." (Frisch 1992: 196)

Der Tagebuchschreiber betont jedoch, dass seine Kritik eigentlich

nicht der Schweiz gelte: " Ich hasse nicht die Schweiz, sondern die

Verlogenheit" (Frisch 1992: 196). Diese Erscheinung ist keinesfalls auf die

Schweiz beschraenkt, entzuendet aber stets die Kritik an den Schweizer

Verhaeltnissen. Sie scheinen alles zusammenzufassen, was Stiller an der

buergerlichen Gesellschaft ueberhaupt kritiesiert. Das haengt wohl mit der

Funktion zusammen, die die Schweiz fuer ihn und seine Identitaetsfindung

hat. So meint Jurgensen: " Stillers Gesellschaftskritik ist ein

wesentlicher Bestandteil seiner Selbstanalyse" (Juergensen 1972: 80)

1. Die raeumliche Perspektive

Der Schweiz, deren raeumliche und geistige Enge Stiller ein Aergernis

ist, wird im Roman ein Gegenbild gegenuebergestellt: Amerika, Sinnbild der

Weite, des urspruenglichen, nicht genormten Lebens.

In folgenden Zitaten kommt diese Gegenueberstellung durch die Wortwahl

zum Ausdruck, wobei fuer die Schweiz Epitheta wie "klein, angemessen,

genuegend" und fuer Amerika solche wie "gross, gluehend, unsaeglich,

bluehend" gewaehlt werden:

"Meine Zelle- ich habe sie eben mit meinem Schuh gemessen, der nicht

ganz dreissig Zentimeter hat - ist klein wie alles in diesem Land, sauber,

so dass man kaum atmen kann vor Hygiene, und beklommend gerade dadurch,

dass alles recht, angemessen und genuegend ist." (Frisch 1992: 15-16)

"Ich sitze in meiner Zelle, Blick gegen die Mauer, und sehe die

Wueste. Beispielsweise die Wueste von Chihuahua. Ich sehe ihre groesse Oede

von bluehender Farben, wo sonst nichts anderes mehr blueht, Farben des

gluehenden Mittags, Farben der Daemmerung, Farben der unsaeglichen Nacht."

(Frisch 1992: 26)

Stiller versucht dem engen und konventionellen Leben in Europa zu

entfliehen und auf dem neuen Kontinent ein freieres Leben zu beginnen.

Allerdings soll diese Deutung eingeschraenkt werden: Sie gilt im "Stiller"

vor allem fuer Mexiko. Was Stiller fasziniert, ist nicht nur die Weite, die

metaphorisch fuer seelische Freiheit steht, sondern auch die

Selbstverstaendlichkeit, mit der die Menschen in Mexiko dem Leben und Tod

gegenueberstehen. Der Erinnerung an den Totentag in Mexiko wird kurz darauf

der Besuch auf dem Friedhof in Zuerich am Grabe der Mutter

gegenuebergestellt: hier die wortlose Hilfslosichkeit zweier Protestanten

gegenueber dem Phaenomen des Todes, dort der selbstverstaendliche Einklang

von Leben und Tod.

" Ich muss […] an den Totentag denken, wie ich ihn auf Janitzio sah,

an die indianischen Muetter, wie sie auf den Graebern kauern die ganze

Nacht, alle in ihren festlichen Trachten, sorgsam gekaemmt wie fuer die

Hochzeit, und scheinbar geschieht ueberhaupt nichts, der Friedhof ist eine

Terrasse ueber dem schwarzen See[..], ein Friedhof ohne einen einzigen

Grabstein oder sonst ein Zeichen […], dazu die Teller mit allerlei Speisen,

die mit einem sauberen Tuechlein bedeckt ist, vor allem aber das sonderbare

Ding, das mit weihnachtlicher Liebe gebastelt worden ist, ein Gestell aus

Bambus, daran das Gebaeck und Blumen, die Fruechte, das bunte Zuckerzeug."

(Frisch 1992: 319)

"Das Grab der Mutter: - wie Graeber hierzulande eben sind, mit

gestelltem Granit saeuberlich eingefasst, alle etwas zu kurz, so, dass man

den Schrecken hat, den Toten auf den Fuessen zu stehen, dazwischen

Kieswege, immergruen am Rand, in der Mitte des Grabes eine toenerne Vase,

ein paar welke Astern drin, hintern dem Stein eine rosige Blechbueckse, um

die Blumen zu begiessen." (Frisch 1992: 324)

Sehr viel kritischer aeussert sich der Tagebuchschreiber ueber New

York. Waehrend der Staatsanwalt von der Rainbow- Bar schwaermt, erzaehlt er

ihm von der Bowery, einem "Viertel, wo auch die Polizei nicht mehr hingeht,

Gefilde der Verlorenen" (Frisch 1992: 176), wo er in einem betrunkenen

Greis seinen Stiefvater zu erkennen glaubt. Hier zeigt sich, dass es

Stiller nicht um die Gesellschaftskritik geht, sondern dass er ueberall

seine persoehnliche Problematik sieht. Dies geht auch vor allem aus der

Schilderung seiner ersten Eindruecke nach der Landung hervor, wo es heisst:

" Ich sah die Praerie, die Schlaechtereien von Chikago, die Mormonen,

die Indianer, die groesste Kupfergrube der Welt […]." Und doch verfolgt ihn

der Gedanke an seine " grazile Balletteuse". (Frisch 1992: 338)

Diese Stelle im Roman zeugt davon, dass der Ankoemmling, der von

seinem frueheren Leben flieht, seine Identitaet leugnet, trotzdem seine

Vergangenheit mit seiner Gegenwart vergleicht, mit anderen Worten sie nicht

loswird.

2. Die zeitliche Perspektive

Wie gesagt, kann der Tagebuchschreiber seine Vergangenheit nicht

abschuetteln. Diese Tatsache widerspiegelt sich auch auf der Zeitebene, wo

Vergangenheit und Gegenwart ineinander verflochten bleiben. Dadurch

entstehen Brechungen, sodass sich Ereignisse gegeseitig spiegeln und

erhellen.

Keine chronologisch erzaehlte Handlung ist im Roman vorhanden, sondern

ein kompliziertes Geflecht mehrerer Zeitebenen. Die Vergangenheit wird in

Form von Rueckerinnerungen und Berichten in die Gegenwart hereingeholt und

mit ihr konfrontiert.

"Ich soll mein Leben erzaehlen, und wenn ich versuche, mich

verstaendlich zu machen, sagen sie: Hirngespinste! […]. Mein Verteidiger

hoert zu, solange ich von meinem Haus in Oakland rede, von Negern und

anderen Tatsachen; sowie ich zur wahren Geschichte komme […] putzt mein

Vertedtiger sich die Fingernaegel, wartet nur darauf, mich zu unterbrechen

mit irgendeiner Lappalie: "Sie hatten ein Haus in Oakland?" […] Es war vier

Meter breit und dreizehn Meter lang (mein Verteitiger notiert, das ist es,

was er wissen will!) und eigentlich, ganz genau zu sein, war es eher eine

Schindelhuette." (Frisch 1992: 60-61)

In diesem Zusammenhang kann man behaupten, dass die Zeit zum Objekt

und zugleich zum Instrument im Zusammenspiel der Realitaeten wird.

Wenn wir die Zeitstruktur des Romans unter die Luppe nehmen, ist auch

in erster Linie zwischen dem schweizerischen und amerikanischen/

mexikanischen Text zu unterscheiden. Fuer das, was aus Amerika berichtet

wird, ist keine genaue Datierung festzulegen, mit Ausnahme des

Selbstmordversuchs, den Stiller vor seiner Rueckkehr unternimmt. White hat

also keine Vergangenheit, die sich erzaehlen liesse, er gibt nur einzelne

Impressionen wieder, einzelne, nicht chronologisch aufeinander folgende

Erinnerungen, die sich meist auf den Aufenthalt in Mexiko beziehen. Diese

Mexiko-Erinnerungen sind haeufig im Praesens geschrieben, ein Zeichen fur

eine Art Zeitlosigkeit des dortigen Lebens.

Im Unterschied dazu ist fuer den 'schweizerischen Text' eine andere

Zeitform, das Praeteritum, charakteristisch.

"Auf dem Tischlein standen drei Rosen, alles im Preis inbegriffen und

alles, versteht sich, bei Kerzenlicht." (Frisch 1992: 298)

"Mexiko! Man erinnert sich an Farbfilme, und genauso ist es,

malerisch, sehr malerisch, und doch, in Wirklichkeit, gibt es Augenblicke,

wo man sich ploetzlich fuerchtet. Es stinkt nach einem toten Hund. Kinder

sitzen mit nacktem Hintern auf dem Unrat, auf dem Faeulnis alter Fruechte.

Auf dem Boden liegt die Ware, ich sehe sie noch heute: Bohnen und Erbsen,

Nuesse, Fruechte, die ich zum erstenmal sehe. " (Frisch 1992; 29)

Es sind die Impressionen eines rollenlosen, entindividualisierten

Ichs, (Lusser- Mertelsmann 1976: 62) das keine Vergangenheit und keine

Zukunft kennt. Diese gewissermassen zeitlose Existenzweise wird auch vom

Tagebuch-Ich uebernommen, das entgegen dem ueblichen Gebrauch seine

Eintragungen ohne Datum vornimmt. Wir koennen zwar den Fruehherbst 1952 als

Datum der Rueckkehr festlegen, erfahren aber nicht genau, wie lange die

Untersuchungshaft dauert.

Die Gegenwartsebene- die Monate der Untersuchungshaft, der

schweizerische Text - wird nun der durch Rueckwendung hereingeholten

Vergangenheitsebene gegenuebergestellt. Das 2. Heft holt dabei zeitlich am

weitesten aus, es beginnt mit dem Kennenlernen Stillers und Julikas kurz

nach seiner Ruckkehr aus Spanien und erzaehlt von da an die Geschichte

ihrer Ehe, jedoch nicht einfach chronologisch, sondern nach einer kurzen

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