anmerkt. (Frisch 1992: 9)
An Stelle eines Lebensberichtes verfasst er jedoch ein Tagebuch,
das neben seinen Erlebnissen im Gefaengnis und einigen wenig
glaubhaften Geschichten aus Amerika nichts ueber sein frueheres Leben
enthaelt, was in Ich-Form berichtet wuerde. Das Tagebuch-Ich erweist
sich als ein Ich ohne Geschichte.
"Das Ich vermag sich offenbar allein als ein gegenwaertiges zu
dokumentieren" (Steinmetz 1973: 36), denn es existiert - genau genommen
- erst seit zwei Jahren, seit dem Selbstmordversuch. Eine Geschichte
hat nur der verschollene Stiller aufzuweisen, ueber den aber gerade
nicht in der ersten, sondern stets in der dritten Person berichtet
wird, der also bis zum 7. Heft hin nie als Ich-Erzaehler in Erscheinung
tritt.
"Das Ich wird ein Objekt", wie Duerrenmatt sagt (Duerrenmatt
1971: 12), es wird von aussen, in der dritten Person, beschrieben, so
wie die anderen es sehen. Es vermittelt dem Leser das Bild Stillers in
den Augen der anderen, jenes Bild, vor dem er gerade geflohen ist.
Die Erzaehlhaltung ist also doppelt gebrochen, einmal wird vom
Roman-Ich in der dritten Person gesprochen, andererseits werden diese
Er-Berichte wiederum durch den Ich-Erzaehler vermittelt, der mit der
dargestellten Person identisch ist. Die Spannung zwischen erzaehlendem
und erlebendem Ich, die einen Reiz des Ich-Romans ausmacht, wird hier
noch gesteigert. Der Ich-Erzaehler bringt sich dem Leser immer wieder
in Erinnerung; obwohl er beteuert: "Ich will aber versuchen, in diesen
Heften nichts anderes zu tun als zu protokollieren, was Frau Julika
Stiller-Tschudy [...] mir oder meinem Verteidiger von ihrer Ehe selber
erzaehlt hat" (Frisch 1992: 90), schimmert seine innere Beteiligung an
den Vorgaengen von Anfang an durch.
Da gibt es einmal neutrale Einfuegungen wie ich protokolliere
[...], scheint es [...], offenbar [...], so sagt er [...], so meint
mein Staatsanwalt [...], so sagt Sibylle usw., die den Redefluss nur
kurz unterbrechen. Daneben stehen scheinbar distanzierende Kommentare
wie Als Fremder hat man den Eindruck (Frisch 1992: 89), es liegt mir
sonst wenig daran, mit dem Verschollenen einig zu sein (Frisch 1992:
100) oder Wieso ist er eigentlich so offen zu mir? (Frisch 1992: 222).
Im zweiten Teil haben wir wiederum einen Ich-Erzaehler, der aber
nicht im Mittelpunkt, sondern am Rande des Geschehens steht. Franz
Stanzel nennt diese Erscheinung "Retrospektive mit Randstellung des Ich-
Erzaehlers" (vgl. Stanzel: 1955). Daher wird er haeufig als neutraler,
objektiver Beobachter angesehen. So betont Braun den
Protokollcharakter, den diese Aufzeichnungen ebenso wie Heft 2,4 und 6
trugen, und er stellt sie daher als 8. Heft den 7 Heften des ersten
Teiles zur Seite (vgl. Braun 1959: 34 und 75).
Demgegenueber muss doch auf den entscheidenden Unterschied
zwischen dem ersten und dem zweiten Teil hingewiesen werden, der darin
liegt, dass der Protokollant im Tagebuch eben derjenige ist, um den es
geht, waehrend sich Rolf distanziert zu dem Geschehen verhaelt.
Juergensen meint: "Rolf stellt seine epische Darstellung zu keiner Zeit
in Frage; er bleibt der autoritaere, allwissende Erzahler". (Juergensen
1972: 76)
Ist der Staatsanwalt wirklich ein allwissender Erzahler?
Hoechstens wohl insofern, als er bereits das Ende der Geschichte -
Julikas Tod kennt und von daher seinen Bericht zusammenfasst. Seine
Objektivitaet ist doch fraglich. Sein Verhaeltnis zu Stiller ist sicher
zwiespaeltig. Von diesem wird er im Tagebuch immer als sein Freund
bezeichnet; seine Freundschaft drueckt sich jedoch kaum in echten
Hilfeleistungen aus. Einmal besuchen er und seine Frau das Stillersche
Ehepaar im Hotel, dann vergehen anderthalb Jahre bis zu seinem ersten
Besuch in Glion. Stillers Anrufe waehrend dieser Zeit, die wohl ein
Zeichen seiner schwierigen Situation sind, sind Rolf laestig.
Vielleicht spielt in seinem Unterbewusstsein immer noch die Eifersucht
auf den frueheren Liebhaber seiner Frau eine Rolle, was ihm ja auch
einmal - bei dem gemeinsamen Spaziergang zu dritt - zu Bewusstsein
kommt: "In den uebrigens seltenen Augenblicken solcher Art wurde mir
das Vergangene doch sehr bewusst; unsere Gegenwart zu dritt bestuerzt
mich dann wie etwas Unmoegliches, zumindest Unerwartetes" (Frisch 1992:
416). Zum objektiven Berichterstatter eignet sich dieser Mann gewiss
nicht
Auch das Nachwort ist also aus einer subjektiven Perspektive
heraus erzaehlt, was man beachten muss um die Ehe Stillers mit Julika
in ihrer letzten Etappe zu beurteilen. Rolf sieht in ihm den eigentlich
Schuldigen, aber was er berichtet - Julikas mangelnde Anerkennung fuer
ihren Mann, ihr Verschweigen der bevorstehenden Operation, schliesslich
die Tatsache, dass sie allein ins Krankenhaus geht - widerlegt
eigentlich das, was er sagt. Wir wissen nicht, was in Julika vorgeht,
denn es gibt in diesem Buch keinen allwissenden Erzaehler, der ins
Innere seiner Romanfiguren sehen kann. Die durchgehende
Perspektivierung des gesamten Romans zeigt jede Figur entweder so, wie
sie sich selbst sieht, oder als Bildnis in den Augen der anderen,
niemals aber losgeloest aus ihrer zwischenmenschlichen Verflechtung.
Nicht epische Totalitaet, sondern Perspektivierung und Medialisierung
sind die Kennzeichen dieser Erzaehlhaltung.
Schlussfolgerung
Im ersten Kapitel der vorliegenden Forschungsarbeit haben wir uns
mit folgenden Themen auseinandergesetzt und sind zu den Schluessen
gekommen:
- Die zentralle Stellung in Frischs Werken nehmen Identitaetsfrage
und Bildnisproblematik ein. Die Titelgestalt vom Roman "Stiller"
will auch mit sich selbst nicht identisch sein, er fuehlt sich
als Versager und flieht nach Amerika.
- Waehrend der Untersuchung der strukturellen Besonderheiten haben
wir festgestellt, dass Frischs Einstellung zum Schreibprozess,
seine Wahl der Architektonik und Form des Romans die
strukturelle Offenheit moeglich macht. Das bedeutet, dass der
Autor dem Leser seine Meinung nicht aufzwingt und der Leser
dementsprechen ueber verschiedene Interpretationsmoeglichkeiten
verfuegt.
- Der komplizierte Aufbau des Romans widerspiegelt seine
Problematik. Man kann zwei Handlungsstraenge verfolgen, die
White- und Stillerhandlung, die am Ende zusammenfuehren, denn
die Doppelidentitaet Stiller/White wird zu einer Einheit.
- Die Form und Funktion des Tagebuches ist im Roman mit der
Erzaehlsituation eng verbunden, weil die Erzaehlsituation durch
Stillers Aufenthalt im Gefaengnis bestimmt ist. In der Analyse
wird Ich- Erzaehlsituation und ihre Besonderheiten vom
Standpunkt der Erzaehltheorie von Stanzel untersucht. Der Autor
waehlt die Ich-Erzaehlsituation, weil er innerliche Welt der
Titelgestalt aus subjektiver Sicht betrachten will. In dieser
Form wird der Leser fast automatisch ein Teil des Buches, da er
sich durch die gewдhlte Erzдhlperspektive in die Rolle Stillers
hineinversetzen muЯ.
II. Zusammenspiel der Realitaeten
Der komplizierte Aufbau des Romans, die von Max Frisch gewaehlte Form
des Tagebuchs und als Folge die offene Struktur des Romans haben dazu
gefuehrt, dass der Text nicht homogaen ist. Im Rahmen der fiktionalen
Wirklichkeit des Romans koennen verschiedene Schichten der inneren
Realitaet ausgesondert werden. Die Mehrschichtigkeit kommt dann zum
Ausdruck, wenn der Leser mit Perspektivierungen der Erzaehlung und
verschiedenen Ebenen der Textwirklichkeit konfrontiert wird. Das sind:
(Stillers Einreise in die Schweiz einerseits und Nachwort des Staatsanwalts
andererseits.
(Die Knobel erzaehlten Geschichten
(Parabolische Geschichten
(Traeume
Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, uns mit dem komplizierten Problem der
textwirklichkeit auseinanderzusetzen und auf verschiedene Ebenen der
Textwirklichkeit im Roman praezieser einzugehen.
1. Der Begriff der Textwirklichkeit. Fiktionalitaet und
Virtualitaet im literarischen Text
Unter der fiktionalen Wirklichkeit ist nicht die Nachahmung der
objektiven Wirklichkeit zu verstehen, sondern eine besondere Wirklichkeit,
die sich im Rahmen eines Textes realisiert und existiert. Die fiktionale
Wirklichkeit ist die innere Wirklichkeit eines fiktionalen, das heisst
eines literarischen Textes, die in diesem Text und durch diesen Text
existiert und ueber eigene Gesetzmaessigkeiten verfuegt.
Die Textwirklichkeit eines Textes stellt in sich keine Ganzheit dar,
dementsprechend kann man einen literarischen Text mit einer Konstruktion,
die aus vielen "Kaestchen" besteht, vergleichen. Paduceva bezeichnete diese
kleinen "Kaestchen" als "Fiktion zweiten Grades", oder "Fiktion in der
Fiktion" (Padu?eva 1996: 388). In der Struktur eines fiktionalen Textes
koennen Fragmente abgesondert werden, die ueber eine besondere Position im
Vergleich zur Hauptlinie des Erzaehlens verfuegen. Es handelt sich dabei um
autonome Textteile wie Traum, Tagtraum, erlebte Rede, Luege, Erzaehlung in
der Erzaehlung und aehnliche Erscheinungen, die in das Textganze
eingeflochten sind. Einzelne Textpassagen wie Rede, Wechselrede,
Landschaftsschilderungen oder Sujetereignisse weisen auf diese fiktionale
Wirklichkeit hin, sind also im Rahmen des fiktionalen Systems des Textes
verifizierbar.
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