Zusammenspiel der Realiatete als eines der Hauptprinzipien des Sujetaufbaus im Roman Stiller von Max Frisch

Verflechtung von Fakten und Fiktionen darin moechte ich extra eingehen.

1. Erzaehlte Geschichten

Eine der Knobel erzaehlten Geschichten ist die Geschichte mit der

"kleinen Mulattin". (Frisch 1992: 50) White beschreibt eine seiner

Heldentaten am Rio Grande mit ausgepraegter Wahrhaftigkeit.

"[…] wir hockten gerade am unser Feuer, denn die Abende in der Wueste

sind bitterkalt, natuerlich gab es weit und breit kein Holz, wir

verbrannten Putzfaeden, was mehr Gestank, als Waerme gibt, und besprachen

mit den Schmugglern, wie sie uns in der Nacht ueber die Grenze schmuggeln

koennten[…]." (Frisch 1992: 51)

Ploetzlich taucht der Mann von der entfuehrten Mullatin, der eindeutig

kriegerisch gestimmt ist, in einer Limousine auf. Und wie schon erwaehnt

war, erschiesst White den letzten "auf der Stelle". (Frisch 1992: 52)

Der eigentliche Sinn der Geschichte laesst sich erst dann verstehen,

wenn sie mit der realen Geschichte verglichen wird. Die wahre Geschichte

geraet auf die Oberflaeche viel spaeter und wird nicht mehr dem

interessierten Waerter erzaehlt, sondern gehoert den uebrigen Gefaengnis-

Aufzeichnungen an.

"Ich schwoere: es gibt eine Mulattin namens Florence, Tochter eines

Dockarbeiters, ich habe sie taeglich gesehen und einige Male mit ihr

geplaudert ueber einen allerdings sehr trennenden, aus alten Teertonnen

ververtigten und von Brombeeren umwucherten Zaun hinweg. Es gibt sie, diese

Florence mit dem gazellenhaften Gang. Ich traeume von ihr, gewiss, die

wildesten Traeume." (Frisch 1992: 187)

Die "kleine Mulattin" aus der White- Geschichte bekommt nun einen

tastbaren realen Umriss und einen Namen. Damit aber kommt ein Signal der

Umschaltung der Realitaeten zum Ausdruck. In der ersten Geschichte geht

White als Frauenheld zu Werke: ""Ich mag die Neger", sage ich, "aber ich

vertrage keine verheirateten Maenner, auch wenn es Neger sind. Immer mit

Ruecksicht, das liegt mir nicht! Natuerlich fuhren wir sofort ueber die

Grenze."" (Frisch 1992: 52)

In der Wirklichkeit aber kommt an Stelle Whites Stiller, von einem

Schuerzenjaeger keine Spur. Davon zeugt eine Episode im Bar.

" Man weiss, wie Neger tanzen. Ihr Partner war gerade ein halbdunkler

US-Army-Sergeant. […]. Ein grosser Kerl mit den schmalen Hueften eines

Loewen, mit zwei Beinen aus Gummi und mit dem halbgeoeffneten Mund der Lust

[…], ein Kerl, der den Brustkorb und die Schultern eines Michelangelo-

Sklaven hatte, der konnte nicht mehr; Florence tanzte allein. Ich haette

jetzt einspringen koennen. Wenn ich gekonnt haette." (Frisch 1992: 188)

"[…] sie sah mich, sagte: Hallo! Nice to see you! Und es troestete

mich fast ueber das Bitterschoene meiner Verwirrung; denn ich wusste sehr

wohl, dass ich diesem Maedchen nie genuegen koennte." (Frisch 1992: 189)

Mr. White ist in den Geschichten mit allen Attributen eines Machos

ausgeruestet: er verhandelt mit den Schmugglern in der Nacht, erschiesst

den Rivalen auf der Stelle. In Wirklichkeit erweist sich eher Joe als

richtiger Macho: "Ein grosser Kerl mit den schmalen Hueften eines Loewen,

mit zwei Beinen aus Gummi und mit dem halbgeoeffneten Mund der Lust […]".

Stiller dagegen ist wiederum ein Versager "wenn ich gekonnt haette".

Und dann eine weitere Parallele, die diese Kluft zwischen White's

erwuenschten "Macho-Welt" und Stillers Verwirrung gegenueber Frauen

verdeutlicht: in der Macho- Geschichte erschiesst der kaltblutige White den

betrogenen Joe. In Wirklichkeit aber ist es Stiller, der zu kurze kommt.

"Der USA-Army-Sergeant stand auch so herum. […]. Dann aber, endlich,

kam meine herrliche Florence hinzu, gab mir ein Glas Bowle und sagte: "This

is Joe, my husband." Ich gratulierte." (Frisch 1992: 191)

Der wilde Westen, das exotische Mexiko dienen als Kulissen einer

phantasierten, abenteurlichen Freiheit, die sich Stiller, Realitaeten

tauschend, nehmen will. Zum Symbol dieses durch keine Fessel zu bindenden

Ausbruchs wird im Roman die Beschreibung des Vulkans Paricutin in Mexiko.

"Mitten aus der Finsternis von toten Schlacken, die der Mond

bescheint, ohne ihre Schwaerze tilgen zu koennen, schiesst sie hervor wie

hellichter Purpur, stossweise wie das Blut aus einem schwarzen Stier. Sie

muss sehr duenn und fluessig sein, diese Lava, fast blitzhaft schiesst sie

ueber den Berg hinunter, langsam an Helle verlierend, bis der naechste

Ausguss kommt, Glut wie aus dem Hochofen, lauchtend wie die Sonne, die

Nacht erluechtend mit der toedlichen Hitze, der wir alles Leben verdanken,

mit dem Innersten unseres Gehirns. Das muessten Sie sehen! In unserer

Seele, ich erinnere mich sehr genau, erwacht ein Jubel; wie er sich bloss

im Tanz entspannen koennte, im wildesten aller Taenze,ein Ueberschwang von

Entsetzen und Entzuecken, wie er die unbegreiflichen Menschen, die sich das

warme Herz aus dem Leibe schnitten, erfasst haben mag." (Frisch 1992: 46-

47)

Mit dieser Schilderung ersetzt Stiller zweifelsohne ihm widerliche

Wirklichkeit, stellt fiktive Freiheit dem realen innerlichen Zustand

gegenueber.

"Zuweilen, allein in meiner Zelle, habe ich das Gefuehl, das ich all

dies nur traeume; das Gefuehl: Ich koennte jederzeit aufstehen, die Haende

von meinem Gesicht nehmen und mich in Freiheit umsehen, das Gefaengnis ist

nur in mir." (Frisch 1992: 20)

Die Verwandschaft zwischen Dichtung und Psychoanalyse ist nicht zu

uebersehen: sie haben beide das menschliche Seelenleben zum Gegenstand, was

ganz besonders fuer Frischs Literatur zutrifft. Ein Unterschied besteht vor

allem darin, dass der Psychoanalytiker sich vorwiegend mit dem Seelenleben

anderer befasst, der Dichter dagegen die Figuren, die er darstellt aus

seinem eigenen Innern schoepft. (vgl. Freud 1907: 82)

Die Wirklichkeit liegt also nicht in der aeusseren Biographie; sie

kann nur mit Hilfe vom Erdichteten ausgedrueckt und umschrieben werden. In

seinen Phantasien will sich Stiller selbst erkunden.

2. Parabolische Geschichten in "Stiller"

Das Erzaehler-Ich in "Stiller" instrumentalisiert die Fiktion, um u.a.

seiner Suche nach dem wahren Ich Ausdruck zu verleihen. Das Eintauchen in

die Schichten seines Bewusstseins wird zur Abenteuergeschichte ueber eine

Expedition in eine Grotte. Die Geschichte beginnt wie die anderen Knobel

erzaehlten Geschichten als Abenteuer in Texas, der Erzaehler schildert sich

als Cowboy. Bald jedoch gewinnt die spannende Geschichte von der

Erforschung einer Hoehle eine tiefere Dimension: aus dem "unterirdischen

Arsenal der Metaphern" (Frisch 1992: 165) wird ein Sinnbild des

Unterbewusstseins, in dem der Kampf zwischen Jim und Jim, zwischen dem

alten und dem neuen Ich vor sich geht. Das ist ein klarer Hinweis auf die

Persoenlichkeitsspaltung des Erzaehlers, als auch auf die Todeserfahrung,

die Stiller bei seinem Selbstmordversuch gemacht hat; dies wird noch

deutlicher beim Anblick des Skelettes, wenn der Erzaehler sagt: "[…] ich

[…] musste meinen ganzen Verstand zusammennehmen, um nicht das Skelett,

dass da im runden Schein der Lampe lag, schlechterdings fuer mein eigenes

zu halten" (Frisch 1992: 162) Der schwierige Aufstieg aus der Hoehle ist

ein Symbol fuer die Wiedergeburt des neuen Ich, die Stiller nach seinem

Selbstmordversuch erlebt hat. Vergleicht er seine Erfahrung danach mit

einem Kindheitserlebnis: "[…] als Buben krochen wir manchmal durch einen

Abwasserkanal, das ferne Loch mit Tagesschein erschien viel zu klein, als

dass man je herauskommen koennte" (Frisch 1992: 379), so beschreibt er den

Ausgang der Hoehle mit aehnlichen Worten: "[…] ich sah ein paar Sterne, ein

paar scheinlose Funken in unendlicher Ferne". (Frisch 1992: 160)

Der Preis fuer diese Wiedergeburt ist der Kampf mit seinem 'Alter Ego'

und dessen Vernichtung; von ihm heisst es spaeter: "Ich denke, dieser

Verschollene wird sich auch nicht mehr melden!" (Frisch 1992: 172)

So bestaetigt die Antwort des Erzaehler-Ichs auf die Frage des

Gefaengniswaerters Knobel, ob er die Hauptperson in dieser Geschichte sei,

eben dieses Verfahren, Erlebnismuster in Fiktionen auszudruecken: "Nein,

[...] das gerade nicht! Aber was ich selber erlebt habe, sehen Sie, das war

genau das gleiche - genau." (Frisch 1992: 172).

In aehnlichem MaЯe tragen die Geschichte von Isidor und das Maerchen

von Rip van Winkle die Erfahrung in sich, den Anforderungen einer Rolle

nicht gerecht zu werden. Die beiden sind Heimkehrgeschichten, obwohl Jim

White die Schweiz zum ersten mal bereist: der Heimkehrer ist naemlich

Stiller.

Die erste Geschichte, die das Thema "Heimkehren" anschlaegt ist die

von Isidor. White schreibt sie mit der Absicht nieder, sie Julika zu

erzaehlen, die aus Paris geholt wird, um mit ihm konfrontiert zu werden.

"Eine wahre Geschichte", so betont er ausdruecklich (Frisch 1992: 41); es

ist der erste Hinweis darauf, dass die "kleine Schnurre" (edg) in Beziehung

zu seiner eigenen Problematik steht. Hier kann man zahlreiche Parallelen

zwischen Whites Fiktion und Stillers Realitaet ziehen; erstens durch die

Zahl der Ehejahre, denn auch Stiller und Julika waren neun Jahre

verheiratet, ehe Stiller-wie Isidor- ploetzlich verschwand. Ironisch heisst

es, es sei im Grunde eine glueckliche Ehe gewesen, auch werden beide Frauen

als sehr liebenswert bezeichnet. Noch deutlicher wird die Beziehung

zwischen dem Fiktiven und Realen, als der Erzaehler berichtet, er habe die

Geschichte seiner schoenen Besucherin angepasst, "also unter Weglassung der

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