Minderwertigkeitskomplexe. Natuerlich betreffen diese Komplexe auch den
erotischen Bereich, und den immer wiederkehrenden Traum vom Gewehr, das
nicht losgeht deutet Stiller selbst als "typische(n) Traum der Impotenz"
(Frisch 1992: 269). "Schiessen" ist in diesem Zusammenhang ambivalent-
woertlich Bereitschaft jemandem das Leben zu nehmen, metaphorisch
Bereitschaft jemandem das Leben zu geben. Das Gewehr ist demzufolge in der
Semantisierung durch Stiller woertlich Mordinstrument, metaphorisch
Sexualorgan. Stillers Angst bleibt rein psychologisch. Er will "nicht
geliebt werden"(Frisch 1992: 269) und hat "eigentlich Angst vor Frauen"
(Frisch 1992: 254), doch "immer war da ein Weib " (Frisch 1992: 311). Er
kompensiert die Angst und "erobert mehr, als er zu halten vermag" (Frisch
1992: 254).
Zwar ist Stiller nicht impotent, aber es gelingt ihm nicht, eine
dauerhafte Bindung zu einer Frau zu finden. Die Ehe mit seiner Frau Julika
wird fuer ihn zu einer Probe, an der er scheitert. Seine Schuldgefuehle
werden dadurch verstaerkt, dass Julika krank wird und in ein Sanatorium
nach Davos gehen muss. Zwar hat er inzwischen in Sibylle eine Frau
kennengelernt, deren heitere, offene Art ihm eine weniger problemgeladene
Beziehung und Bindung moeglich erscheinen laesst, jedoch ist sein
Verhaeltnis zu ihr wiederum durch seine Schuldgefuehle gegenueber Julika
belastet, und so wird sein Versagen als Liebender zum weiteren Anlass
seiner Flucht nach Amerika.
Der dritte Punkt, in dem er sich als Versager fuehlt, ist sein Beruf,
die Bildhauerei; ob zu Recht oder nicht, kann aus dem Text nicht eindeutig
erschlossen werden. Mr. White schreibt darueber: "Wie begabt er nun
eigentlich war, ihr verschollener Stiller, daruber gingen die Meinungen
offenbar von Anfang an auseinander, und es gab Leute, die ihn nie fuer
einen Kuenstler hielten" (Frisch 1992: 91). Sibylle dagegen ist beim
Blaettern in seinem Skizzenbuch "bestuerzt im Gefuehl, sich in einen
Meister verliebt zu haben" (Frisch 1992: 263) Stiller selbst jedenfalls
glaubt, in der Kunst versagt zu haben, und zerschlaegt ja auch,
heimgekehrt, bei einem Lokaltermin alle seine Werke. Allerdings darf man in
dieser Handlung nicht nur eine Auseinandersetzung mit seiner Kunst sehen,
er versucht vielmehr ein letztes Mal seine Vergangenheit zu zerschlagen, um
von ihr frei zu werden.
"Julika scheint erwartet zu haben, mein Gestaendnis liege bereits vor,
[…]." (Frisch 1992: 366)
"Noch immer mit der warmen Ruhe der Zuversicht versuche ich Julika zu
erklaeren, warum sie, so sie mich wirklich liebt, kein Gestaendnis von mir
braucht, dass ich ihr verschollener Gatte sei." (Frisch 1992: 367)
"[…], nach einigem Warten, […], erhebe ich mich, spuere ploetzlich
sehr schwere Beine, staube meinen Mantel ab, um Zeit fuer irgendeine
gluecklichere Wendung zu lassen, gehe endlich zur Tuere, […], die
geschlossen ist. Geschlossen." (Frisch 1992: 368)
""Da!"-lache ich vor Wut, die mich im Grunde doch nicht verlassen hat,
und reisse so ein Sacktuch ab, ratsch, und wie erwartet: lauter Staub, von
keinem Verteitiger zu halten, ein Gebroesel von trockenem Lehm, und das
naechste ebenso, Mumien, nichts als Mumien, das ist aber auch alles, was
von ihrem verschollenen Stiller sich haelt, der Rest ist Erde, wie der
Pfarrer sagt, ein paar graubraune Klumpen auf dem Boden, vor allem aber
eine Wolke von braunem Staub, wenn ich die Sacktuecher schuettle." (Frisch
1992: 370)
War das Gefuehl, in dreifacher Hinsicht versagt zu haben, der Grund
fuer Stillers Flucht nach Amerika, so lohnt es sich zu fragen, ob es ihm
dort gelungen ist, sich ein neues Leben und eine neue Identitaet mit sich
selbst aufzubauen. Dem naiven Waerter Knobel gegenueber, der seine
Erzaehlungen staunend und glaeubig anhoert, zeichnet er ein Gegenbild:
einen erfolgreichen Mann, der sich ohne Hemmungen nimmt, was er haben
moechte, und der Glueck bei den Frauen hat. So ermordet er den Haaroel-
Gangster Schmitz mit dem Dolch, weil "dem in einem ordentlichen Rechtsstaat
nicht beizukommen ist" (Frisch 1992: 25); rettet eine Mulattin aus dem
brennenden Saegewerk, erschiesst ihren Mann Joe: "Liebst du mich oder
liebst du ihn?[…] Und Schuss. Und kein Wort mehr von Joe" (Frisch 1992:
52).
Die Wirklichkeit seines Amerika-Aufenthaltes hat offenbar anders
ausgesehen. Wenn man auch nur wenig ueber Stillers Leben dort erfaehrt, so
wird doch deutlich, dass er seine Vergangenheit, insbesondere seine
Schuldgefuehle gegenueber seiner Frau, auch hier nicht abschuetteln kann.
Sinnbild dieser Bindung an die Vergangenheit ist die Geschichte von der
Katze, die leitmotivisch das Tagebuch durchzieht. Wenn wir die Gestalt von
"Little Grey" in die Analyse miteinbeziehen, koennen wir feststellen, dass
White in diesem Bild symbolisch fuer Stiller steht. Die Beziehung von White
zu seiner Katze zeigt Interpetationsmoeglichkeiten bezueglich derselben zu
den Beziehungen von Stiller und Julika. Es war in Oakland/ California, und
er durfte im Hause wohnen, wenn er dafuer die Katze fuetterte. Wenn sie ihn
stoerte, warf er sie hinaus. Doch sie fand wieder ins Haus: "Es wurde ein
Kampf um Ausdauer… weil sie um meine Huette jaulte und mich der ganzen
Nachberschaft verschrie… Ihr Blick drohte mit sterben…"(Frisch 1992: 62)
Es ist genauso wie bei Julika, durch deren Krankheit er sich an sie
gefesselt fuehlt. Auch das Gefuehl der eigenen Minderwertigkeit gegenueber
Julika uebertraegt er auf die Katze:"Sie lebte… wenn auch mit der Miene
einer Siegerin…" (Frisch 1992: 339)
Die Tatsache, dass Stiller die Katze einmal in dem Eisschrank
eingesperrt hat, koennte Julika's Frigiditaet symbolisieren, ueber die sich
Stiller im Nachwort bei Rolf beklagt.
Er wird die Katze, die er einmal als "Vorbote(n)" bezeichnet (61) und
die er innerlich mit seiner Frau in Beziehung setzt (Frisch 1992: 339),
ebenso wenig los wie seine Vergangenheit.
Den letzten verzweifelten Schritt, damit zu brechen, stellt der
Selbstmordversuch dar, den Stiller zwei Jahre vor seiner Rueckkehr in die
Schweiz unternimmt. Es ist der Versuch, "ein Leben, das nie eines gewesen
war" (Frisch 1992: 381), von sich zu werfen. Der Schmerz und der Schrecken,
die hinterher einsetzen, zeigen ihm, dass er lebt; er nennt dieses Erlebnis
seinen Engel. Nun will er so leben, "dass ein wirklicher Tod zustandekommt"
(Frisch 1992: 381), das heisst, dass er mit sich selbst identisch wird.
Stiller kann ueber dieses Erlebnis nur in Andeutungen berichten, es "ist
nicht verbalisierbar, dabei ist gerade darin seine tiefste Erkenntnis ueber
sich selbst begruendet" (Tildy 1967: 23). Das Gefuehl, von diesem Zeitpunkt
an ein neues Leben begonnen zu haben, "die bestimmte Empfindung, jetzt erst
geboren worden zu sein" (Frisch 1992: 381), ist der tiefste und meiner
Meinung nach der eigentliche Grund, weswegen der Heimkehrer sich weigert
seinen frueheren Namen wieder anzunehmen. Denn damit geriet er unweigerlich
wieder in sein frueheres Leben hinein, ubernaehme eine Rolle, in die er
nicht mehr passt. Niemand ist naemlich bereit in ihm einen neuen,
gewandelten Menschen zu sehen, jeder sucht in ihm nur die Zuege des Anatol
Stiller, die er von frueher her kennt. Darum heisst es schon auf S. 49:
"Ich bin nicht ihr Stiller [...] Wozu mein Geflunker? Nur damit sie mir
meine Leere lassen, meine Nichtigkeit, meine Wirklichkeit, denn es gibt
keine Flucht, und was sie mir anbieten, ist Flucht, nicht Freiheit, Flucht
in eine Rolle". (Frisch 1992: 49)
" Es gibt keine Flucht" - dieser Satz taucht immer wieder auf und
diese Einsicht ist eine der Grundlagen des Romans ueberhaupt, denn weil
Stiller erfahren hat, dass Flucht vor sich selbst nicht nuetzt, um mit sich
selbst fertig zu werden, kehrt er in die Schweiz zurueck. Aber mit der
Rueckkehr in die Schweiz ist die Flucht vor sich selbst noch nicht
aufgehoben, denn der Gefangene weigert sich die Identitaet mit dem
Verschollenen zu gestehen.
Max Frisch hat in seinem Roman eine innere, psychische Situation,
naemlich die Flucht vor sich selbst als eine aeusserliche Situation
dargestellt. Der Roman ist eine Darstellung eines Ich-Zerfalls und zugleich
der Versuch der Wiederherstellung, der Heilung durch Selbstsuche. Gleich
mit dem Beginn des Romans faengt diese Selbstsuche an und in dieser
Ausseinandersetzung mit sich selbst liegt die psychoanalytische Faerbung
des Romans.
"Was Frisch hier darstellt, ist tatsaechlich eine Art Selbstanalyse
als Reaktion auf das Scheitern der Flucht vor sich selbst, und diese
Selbstanalyse hat sehr viel Aehnlichkeit mit der psychoanalytische
Therapie" (Wesstein 1967: 256)
3. Der amerikanische und der schweizerische Text im Roman.
Versuch einer vergleichenden Analyse
Das Zusammenspiel der Realitaeten kann aus einer anderen Sicht
untersucht werden, die aber von dem Begriff der Mehrschichtigkeit in
"Stiller" nicht wegzudenken ist. Das ist die Opposition 'die Schweiz-
Amerika', wo Amerika aus Stillers Perspektive fuer die Welt der Flucht
steht und die Schweiz der Ort seines Versagens ist.
Bei der kritischen Darstellung der Schweiz muss zwischen der Stillers
und der Whites unterschieden werden, das heisst zwischen den kritischen
Aeusserungen Stillers vor seiner Flucht nach Amerika, die von anderen
Personen berichtet werden, und denen, die der Ich- Erzaehler in der
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