Es lohnt sich auch auf ein weiteres Aspekt, naemlich auf den Gebrauch
von Helvetismen aufmerksam zu werden. Sie treten im Text als Bestandteile
einer der vorhandenen Realitaeten auf.
Walter Schenkers ausfuehrliche Untersuchung behandelt diesen
Teilaspekt, naemlich die Rolle, die die schweizerische Mundart in "Stiller"
spielt. Wenn naemlich Stiller in der Rolle Whites seine Schweizer Herkunft
verleugnet, so muss er darauf achten, keine Helvetismen in seine
Aufzeichnungen einfliessen zu lassen. Dies gilt natuerlich vor allem fuer
die Hefte 1, 3 und 5, waehrend die Hefte mit gerader Numerierung ja das
wiedergeben, was ihm andere erzaehlt haben sollen; hier besteht also kein
Grund schweizerische Redewendungen aengstlich zu vermeiden. So gebraucht er
z. B. im 2. Heft den Ausdruck Coiffeur, den Max Frisch nach Schenkers
Auskunft als typisch schweizerisch empfindet. (Schenker 1969: 55) Ebenso
heisst es im 2. Heft: "Kurz darauf erschien die Schwester, um sich zu
erkundigen, ob Frau Julika wirklich nicht zu kalt hatte" (Frisch 1992:
144). Der Ausdruck ich habe kalt statt hochdeutsch mir ist kalt ist
eindeutig schweizerisch. Eine aehnlich schweizerische Wendung ist: "Die
Sonne machte sehr warm" (Frisch 1992: 415), ein Ausdruck, den der
Staatsanwalt in seinem Nachwort benutzt.
Ob es allerdings White wirklich gelingt, das Tagebuch von Helvetismen
freizuhalten, ist fraglich. So schreibt er z. B.: "Es war keine
Kleinigkeit, die steifen Gladiolen einigermassen zu buscheln (Frisch 1992:
250). Das Wort buscheln empfindet auch Frisch nach Schenker als
mundartlich. (Schenker 1969: 91) Je weiter das Tagebuch fortschreitet,
desto weniger achtet der Schreiber darauf, keine Helvetismen zu gebrauchen;
als er im 7. Heft seine Vergangenheit durch den Gebrauch der ersten Person
als die seinige anerkennt, schreibt er z. B. wieder Coiffeur (Frisch 1992:
382) oder die Sonne gibt warm (Frisch 1992: 349).
Sprache und Stil im Allgemeinen sind vielmehr von der Problematik und
Struktur des Romans abhaengig, wobei sich die eigentuemliche Situation
ergibt, dass der Titelheld, der sich ja schriftlich und muendlich gut zu
artikulieren versteht, gerade dann verstummt, wenn es um seine
persoenlichste, existenzielle Erfahrung geht. Das kann zugleich als Signal
der Umschaltung der Realitaeten gelten. Je weiter sich Stiller von seinen
existenziellen Erfahrungen entfernt, desto leichter findet er Worte. So zum
Beispiel, wenn er Knobel beredt und farbig seine Abenteuer erzaehlt.
"Das ist es: ich habe keine Sprache fuer die Wirklichkeit", heisst es
unter PS bereits am Ende des 1. Heftes. Und nach Reflexionen ueber die
Frage, wer er in Wirklichkeit ist, schliesst der Tagebuchschreiber diesen
Abschnitt nochmals mit dem Satz: "Ich habe keine Sprache fuer meine
Wirklichkeit! (Frisch 1992: 84) "Jedes Wort ist falsch und wahr, das ist
das Wesen des Worts [...]" (Frisch 1992: 175), steht im 3. Heft, und
schliesslich reflektiert Stiller im 7. Heft im Zusammenhang mit dem Sinn
des Tagebuchs:
"Schreiben ist nicht Kommunikation mit Lesern, auch nicht
Kommunikation mit sich selbst, sondern Kommunikation mit dem
Unaussprechlichen. Je genauer man sich auszusprechen vermochte, um so
reiner erschiene das Unaussprechliche, das heisst die Wirklichkeit, die den
Schreiber bedraengt und bewegt. Wir haben die Sprache, um stumm zu werden.
" (Frisch 1992: 330). "Wer schweigt, ist nicht stumm. (Juergensen 1972: 99)
Wer schweigt, hat nicht einmal eine Ahnung, wer er nicht ist."
Das Verstummen, das in letzter Konsequenz zum Wechsel der
Erzaehlerperspektive fuehrt, setzt ein, nachdem er seine Vergangenheit als
die seine anerkannt und, wenn auch nicht ohne Zwang, seine Identitaet als
Stiller akzeptiert hat. (vgl. Schenker 1969: 116) Vielleicht deutet auch
der Name Stiller auf dieses Verstummen.
Sprache und Stil werden also fuer den Tagebuchschreiber von dem
Verhaeltnis bestimmt, in dem sich das Dargestellte zu seiner persoenlichen
Problematik befindet, Er weicht dort, wo die Sprache die unmittelbare
Erfahrung nicht ausdrueckt, ins Parabolische aus, sucht sich in Geschichten
und Traeumen, in Bildern und Vergleichen auszudruecken.
Schlussfolgerung
Im Rahmen der vorliegenden Diplomarbeit haben wir uns zum Ziel gesetzt
das Phaenomen des Zusammenspieles der Textrealitaeten im Roman "Stiller" zu
erlaeutern.
Im Zusammenhang mit dem gesetzten Ziel haben wir uns mit folgenden
Aufgaben auseinandergesetzt und sind zu folgenden Schluessen gekommen:
. Der Aufbau des Romans, die Form und Funktion des Tagebuches, deren
sich der Autor bedient, beeinflussen die Offenheit des Romans. Die
Autorenposition von Max Frisch, die im Roman zum Ausdruck kommt,
bawaegt den Leser zum Nachdenken und macht ihn zu einem
'Mitspieler'. Diese unvollendete literarische Form bewirkt, dass der
Autor dem Leser sein eigenes Bildnis nicht aufzwingt. Die knappe
Information, die der Leser beim Rezeptionsvorgang erhaelt, ergibt
Leerstellen, die er mit eigenen Assoziationen, Theorien und
Vermutungen fuellt. Die Perspektivierung der dargestellten
Ereignisse fuehrt unter anderem zu verschiedenen
Interpretationsmoeglichkeiten.
. Erzaehlsituation und Erzaehlhaltung, insbesondere ihre zahlreichen
Aenderungen im Rahmen des Erzaehlens, treten als Signale der
Umschaltung der Realitaeten auf.
. Das Fehlen der einheitlichen Textwirklichkeit, naemlich das
Phaenomen "Text im Text" und damit verbundene Erscheinung "virtuelle
Textwirklichkeit" sind wesentliche Merkmale des Zusammenspieles
zwischen Fakt und Fiktion. Die Mehrschichtigkeit der
Textwirklichkeit kommt in "Stiller" in solchen Textfragmenten wie
erzaehlte Geschichten, parabolische Geschichten, Traeume zum
Ausdruck. Diese Behauptung wird in der vorliegenden Arbeit unter
anderem durch die psychoanalytischen Theorien der Traumdeutung und
Belletristik von Sigmund Freud bestaetigt. Diesen Theorien zufolge
verarbeitet der Mensch ihm widerliche Wirklichkeit und ersetzt sie
durch eine neue, erwuenschte, indem er traeumt und Geschichten
erfindet. Mit anderen Worten, er vertauscht Realitaeten und spielt
mit ihnen. Indem der Tagebuchschreiber Fiktionen waehlt, um sich
auszudruecken, indem er Geschichten erzaehlt, mit anderen Worten
moegliche Beispiele gibt, fuer das, was ihm wiederfahren ist,
versucht er sich selbst zu erkennen.
( Die Gegenueberstellung 'die Schweiz- Amerika', die sich im
Rahmen des Forschungsthemas von der zeitlich- raeumlichen Perspektive
aus vollzieht, ist zusammen mit der Untersuchung der Sprache und des
Stils wesentlicher Bestandteil der analysierten Erscheinung des
Zusammenspiels der Textrealitaeten. Beim Vergleich des
'schweizerischen' und 'amerikanischen' Textes offenbaren sich
inhaltliche und sprachliche Instrumente und Signale, die die
Autorenabsicht veranschaulichen.
- Die raeumliche und geistige Enge der Schweiz wird mit dem Sinnbild
der Weite, mit Amerika konfrontiert. Das kommt durch die Wortwahl
zum Ausdruck, wobei fuer die Schweiz z. B. Epitheta wie "klein,
angemessen, genuegend" und fuer Amerika solche wie "gross,
gluehend, unsaeglich, bluehend" gewaehlt werden.
- Diese Tatsache widerspiegelt sich auch auf der Zeitebene, wo
Vergangenheit und Gegenwart ineinander verflochten bleiben. Dadurch
entstehen Brechungen, so dass sich Ereignisse gegeseitig spiegeln
und erhellen. Die amerikanische, bzw. mexikanische Ereignisse
werden meistens im Praesens beschrieben, was von gewisser
Zeitlosigkeit, mit anderen Worten Fiktion, des dortigen Lebens
zeugt. Im 'schweizerischen' Text bleibt die Vergangenheit und
Gegenwart miteinander vermischt, was die Tatsache zuspitzt, dass
der Tagebuchschreiber seine Vergangenheit nicht loswird.
- Sprache und Stil werden fuer den Tagebuchschreiber von dem
Verhaeltnis bestimmt, in dem sich das Dargestellte zu seiner
persoenlichen Problematik befindet, er weicht dort, wo die Sprache
die unmittelbare Erfahrung nicht ausdrueckt, ins Parabolische aus,
sucht sich in Geschichten und Traeumen, in Bildern und Vergleichen
auszudruecken.
Die Untersuchung, die im Rahmen der vorliegenden Forschungsarbeit
durchgefuehrt war, ist einer der Wege komplizierte Welt des Romans zu
beschreiben. Das Phaenomen des Zusammenspieles der Realitaeten hat
ausserdem mit der Beschreibung der obenerwaehnten Textfragmente noch nicht
sein Bewenden, denn der ganze Text basiert auf Wechselbeziehungen von
verschiedenen Perspektieven. Das kommt fast in jedem Satzt zum Ausdruck: in
Repliken, Beschreibungen von Gestalten, in der Wahl von Epitheta.
Das von uns gewaehlte Herangehen an die Analyse des Zusammenspiels der
Textrealitaeten im Rahmen eines fiktionalen Textes ist nur eines der
Verfahren die Autorenabsicht von Max Frisch zu verstehen.
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