fuenf Kinder und unter freier Verwendung eines Traumes […] Isidor gibt,
sooft er auftaucht, keine Schuesse in die Torte, sondern zeigt nur seine
beiden Haende mit Wundmalen" (Frisch 1992: 56). Der Heimkehrer will mit
dieser Geschichte sich und seine Motive Julika verstaendlich machen. Julika
aber reagiert genauso wie Isidors Frau, indem sie mit fast den gleichen
Worten sagt: "Warum hast du nie geschrieben? Wo bist du nur all die Jahre
gewesen?" (Frisch 1992: 59) Mit anderen Worten: sie ist nicht bereit in ihm
einen neuen, gewandelten Menschen zu sehen: "Ach, […] du bist noch immer
der gleiche" (Frisch 1992: 57)
Eine Ehe- und Heimkehrgeschichte ist auch das Maerchen von Rip van
Winkle, das Frisch von Washington Irving uebernommen und fuer seine Zwecke
leicht veraendert hat. Der Heimkehrer nennt sich in diesem Maerchen nicht
White, sondern Rip van Winkle, wodurch eine parabolische Spiegelung
entsteht. Die Ausgangssituation ist in beiden Geschichten aehnlich. Stiller
erkennt sich in Rip van Winkle wieder. Wie dieser ist er in den Augen der
Gesellschaft ein Versager, waehrend seine Frau, ebenso wie Julika, von
allen bedauert und bewundert wird.
Im Grunde ist dieser Rip van Winkle ein "herzensguter Kerl" (Frisch
1992: 72) und ein Fischer, "der nicht um der Fische willen fischte, sondern
um zu traeumen"(edg), und aehnelt so Stiller dem "deutschen Traeumer".
" Rip fuehlte es wohl, dass er einen Beruf haben muesste, und liebte
es, sich als Jaeger auszugeben"(Frisch 1992: 73), doch auf weibliche Tiere
vermag der "Jaeger mit dem Schiessgewehr" (edg) nicht abzudruecken- "stets
hatte er mehr erlebt, als geschossen". (edg).
Sehr wichtig fuer das Verstehen Stillers Intention ist der Schluss der
Geschichte. Rip van Winkle bleibt bei Frisch ein "Fremdling in fremder
Welt" (Frisch 1992: 76), der an seiner Identitaet zweifelt. Auf die Frage,
wer er ist, antwortet er: "Gott weiss es, gestern noch meinte ich es zu
wissen, aber heute, da ich erwacht bin, wie soll ich es wissen?" (edg).
Fast die gleichen Worte gebraucht der Tagebuchschreiber, um seine Situation
zu beschreiben: "Weiss ich denn selbst, wer ich bin?" (Frisch 1992: 84)
Dies schreibt er, kurz nachdem er dem Verteitiger das Maerchen erzaehlt hat
um diesem "aus seinem nachgerade ergreifenden Missverstaendnis meiner Lage
[…] herauszuhelfen" (Frisch 1992: 70) Waehrend aber der heimkehrende White
wider seinen Willen sofort als Stiller identifiziert wird, bleibt van
Winkle selbst gegenueber seiner Tochter unbekannt. Rip van Winkle gelingt
es praktisch wider Willen, was Stiller mit allen seinen Kraeften vergeblich
anstrebt: er kehrt als Unbekannter, als Fremder in sein Dorf zurueck.
Der Tagebuchschreiber erfindet also die Geschichten, um einerseits das
Erwuenschte ans Licht zu bringen, um widerliche Wirklichkeit zu ersetzen
und andererseits um dem Bildnis, dass seine Umwelt von ihm hat, nicht
gerecht zu werden. Er ist auf der Suche nach seiner "Wirklichkeit, denn es
gibt keine Flucht, und was sie mir anbieten, ist Flucht, nicht Freiheit,
Flucht in eine Rolle." (Frisch 1992: 49)
Mit Traeumen verhalte es sich ebenso, in beiden Faellen spielen vor
allem verdraengte Wuensche eine Rolle. Das Erfinden von Geschichten und die
durch Traeume ersetzte Wirklichkeit geben dem Tagebuchschreiber eine
Moeglichkeit sich selbst zwischen dem Fiktiven und Realem zu finden.
2.3 Traeume
Der Roman "Stiller" ist, wie Frisch einmal selbst formuliert hat, "das
Tagebuch eines Gefangenen, der sich selbst entfliehen will" (Bienek 1969:
24) Aber mit Flucht ist nicht nur die Flucht in den Raum gemeint, sondern
eine Flucht vor sich selbst.
Diesen Gedanken wiederspiegeln zwei Traeume von Stiller, die im Rahmen
dieser Behauptung analysiert werden. Der erste ist der sogenannte "Traum
von Militaer". Diesen Traum verursacht eine Fahrt in ein Zeughaus, "um die
soldatische Ausruestung des Verschollenen zu besichtigen" (Frisch 1992:
152)
Im Traum werden vom Tagebuchschreiber die Ereignisse der vergangenen
Woche verarbeitet und so kommen sie dann zum Ausdruck: "Getraeumt: ich
trage den Waffenrock von Stiller, dazu Helm und Gewehr." (Frisch 1992:
174).
Es war tatsaechlich der Fall waehrend des Besuches, dass White
gezwungen war die Militaerausruestung des Verschollenen anzuziehen: "Ich
komme nicht zu Wort. Auch den Waffenrock ihres Verschollenen habe ich
anzuziehen" (Frisch 1992: 154)
"[…] ich sollte meine Unterschrift geben, um den Empfang eines
Gewehres und der neuen Marschschuhe zu bestaetigen." (Frisch 1992: 155)
Nach Freuds These: "Durch den Traum koennen wir manches wissen, was
wir uns weigern, wach zu wissen." (Freud 1945: 66) koennen wir behaupten,
dass jeder Traum seinen Sinn hat. Er sieht in dem Traum einen Vermittler
zwischen dem Unterbewusstsein und dem Bewusstsein. Der Mensch aeuЯert nach
Freud in jedem Traum seinen innersten geheimen Willen, er sieht den Traum
als "Hueter des Schlafes".
Uns auf den Freudschen Gedanken stuetzend, koennen wir behaupten, dass
das ausschlaggebende in diesem Traum, in dieser Wirklichkeitsbewaeltigung
die Tatsache ist, die Stiller spaeter in seinen Aufzeichnungen
protokolliert.
"Es ist komisch, nicht einmal im Traum fuehle ich mich als Mitrailleur
Stiller" (Frisch 1992: 174)
Dieser Satz zeugt davon, dass Stiller sogar in Traeumen den Gedanken
nicht aufgibt von der Wirklichkeit zu fliehen, ihm aufgezwungene Realitaet
loszuwerden und sich selbst ein Fremder zu sein.
Dieser Flucht von der Wirklichkeit und vor allem vor sich selbst
liegt das Gefuehl zugrunde, in allem ein Versager zu sein.
" Ich bin kein Mann. Jahrelang habe ich davon getraeumt: ich moechte
schiessen, aber es schiesst nicht- ich brauche dir nicht zu sagen, was das
heisst, es ist der typische Traum der Impotenz". (Frisch 1992: 269)
Der Traumdeutungstheorie von Sigmund Freud zufolge lassen sich Traeume
mit Hilfe ihrer Symbole verstehen. Die letzten sind mehrdeutig und koennen
verschiedene Bedeutungen haben.
Zum Beispiel Traeume, die eine Flucht beinhalten, haben im Gegensatz
zu den meisten anderen Traumbildern haeufig ein eindeutig negatives Bild,
denn auf der Flucht wird sich kaum jemand wohl fuehlen. Auf der anderen
Seite kann dieses Traumbild auch darauf hindeuten, dass man sein Leben zu
wenig selbst in die Hand nimmt, seine Kraefte unterschaetzt und nicht zu
kaempfen wagt. So unangenehm Fluchttraeume sind, so beinhalten sie doch
stets auch einen positiven Aspekt, da Flucht stets auch eine Loesung
darstellt.
Der Gegenpol zum Fluchtbild ist das Bild des Kampfes, das in Traeumen
in vielen Variationen auftaucht. So kann man davon traeumen, verbal mit
jemandem zu kaempfen, also zu streiten, man kann sich in
Handgreiflichkeiten verwickelt sehen, oder man kann von Krieg traeumen.
Diese Symbolik ist besonders fuer die Interpraetation des Traums von
Stiller wichtig. Normalerweise wird Kampf als ein Konflikt mit sich selbst
gedeutet; man hegt einander widersprechende Gefuehle oder Gedanken. Bei der
Deutung ist auch wichtig, ob der Kampf gewonnen oder verloren wird. Im
ersten Fall koennen durchaus positive Gefuehle geweckt werden, im zweiten
Fall- und das ist gerade der von Stiller- ist die Sache frustrierend und
kann zum Ausloeser fuer Fluchttraeume werden.
Stiller fuehlt sich als einer, der versagt hat, er will eine
Vergangenheit abschuetteln, die fuer ihn voll negativer Erinnerungen ist.
Sein Versagen empfindet er in dreifacher Hinsicht: als Kaempfer, als
Liebender, als Kuenstler. Als Kaempfer hat er in Spanien versagt, wo er als
Freiwilliger am Buergerkrieg teilgenommen hat. Dass er nicht auf die Feinde
geschossen hat, obwohl er den Befehl und die Moeglichkeit dazu hatte, kann
er sich selber nie verzeihen.
Hier werden zwei Realitaeten miteinander konfrontiert:einerseits ist
es die Wirklichkeit, die mit dem Spanienerlebnis verbunden ist:
"Ich hatte einen Auftrag, ich hatte mich sogar darum beworben, ich
hatte den Befehl, die Faehre zu bewachen, einen vollkommen klaren Befehl.
Was weiter! Es ging nicht um mich, es ging um tausend andere, um eine
Sache. Ich hatte zu schiessen. Wozu war ich in Spanien? Es war ein Verrat."
(Frisch 1992: 268)
Andererseits ist es die fiktive Realitaet, die der wiederkehrende
Traum vom Gewehr, das nicht losgeht, beinhaltet: "ich moechte schiessen,
aber es schiesst nicht." (Frisch 1992: 269)
Von diesem Erlebnis kommt er innerlich nicht los, es wird in einer
Gesellschaft erzaehlt, in der er seine spaetere Frau Julika kennen lernt,
und ebenso erzaehlt er es spaeter Sibylle, als sie ihn zum ersten Mal in
seinem Atelier besucht. Waehrend Julika gar nicht versteht, welche
Bedeutung dieses Erlebnis fuer ihn hat, macht ihn Sibylle darauf
aufmerksam, dass er etwas auf sich genommen habe, was seinem Wesen gar
nicht entsprach. "Wer verlangt von dir, dass du ein Kaempfer bist, ein
Krieger, einer, der schiessen kann?"
(Frisch 1992: 269), fragt sie ihn. Sie sieht, dass Stiller sich selbst
ueberfordert hat, dass er schon damals etwas anderes sein wollte, als er
eigentlich war. "Er leidet an der klassischen Minderwertigkeitsangst aus
uebertriebener Anforderung an sich selbst" (Frisch 1992: 252), so
beschreibt der Tagebuchschreiber im Rueckblick den verschollenen Stiller.
Die Niederlage in Spanien, als die Stiller dieses Erlebnis immer wieder
bezeichnet, ist einer der Hauptgruende fuer seine
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